Binghamton

Es wird Zeit auch mal ein paar Worte zu dem kleinen Örtchen zu verlieren, dass ich die nächsten paar Monate meine Heimat werde nennen dürfen. Was gibt es zu sagen? Eigentlich nicht allzu viel, schaut man sich auf Wikipedia um, gibt das nicht sehr viel her. Hauptstadt des Broome County, wie hier die Verwaltungsbezirke heißen, knapp 50000 Einwohner, eine große Uni (die mit alleine 14000 Studenten schon einen Großteil der Einwohnerschaft Binghamtons stellt), das war es eigentlich. IBM wurde hier zwar gegründet, ist allerdings schon längst Richtung New York in spannendere Gefilde weitergezogen. Eine Liste mit berühmten Persönlichkeiten, die hier gelebt und/oder gewirkt haben, ich kenne keine einzige davon. Anscheinend war Binghamton schon ein mal in den landesweiten Nachrichten, da war eine (in einer Tragödie resultierende) Geiselnahme in der Innenstadt, circa zehn Gehminuten von meinem Zimmer entfernt. Es scheint eine Stadthalle, ein ganz hübsches Gerichtsgebäude und einen Bahnhof zu geben. Soviel dazu.

Kommt man, wie ich, mit dem Fernbus an, bietet sich einem auf den ersten Blick ein Bild, das den Eindruck des Wikipediaartikels zu bestätigen scheint: Eine Skyline, die aus einer Handvoll etwas höherer Häuser besteht, viele flache Fabrik- und Lagergebäude, kaputte Straßen. Binghamton wurde in einem Ranking vor ein paar Jahren zu einer der top fünf der „most depressing cities“ in den Vereinigten Staaten „gekürt“. Nach dem schillernden New York City reichlich ernüchternd. Und hier soll ich jetzt die nächsten zehn Monate wohnen?

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Ja, soll ich. Denn wenn ich eines in meiner Reise-Erfahrung gelernt habe, dann, dass nicht nur tolle Skylines und weiße Strände allein den Reiz einer Stadt ausmachen, schon gar nicht wenn man dort dauerhaft wohnt. In Australien machte ich einige meiner schönsten Erfahrungen an eher unästhetischen Plätzen. Was aus meiner Sicht zum Wohlfühlen mindestens genauso wichtig ist, sind die Leute, auf die man hier trifft, und die Erlebnisse, die man hat. Und da muss ich sagen: Bisher bin ich alles andere als „depressed“: Über ein Inserat auf Craigslist fand ich ein Zimmer bei den besten Leuten, die man sich vorstellen kann: Marion und Paul, ein Pärchen mittleren Alters, die mich hier so gastfreundlich und supernett aufgenommen haben, wie man es sich nur erträumen kann: Von tollen Ausflügen zum Baden und Kajakfahren in ihr Haus im idyllischen Whitney Point hier in der Nähe zum Barbecue hier auf der Terrasse, nach knapp einer Woche fühle ich mich schon richtig als Teil ihrer Familie, und das macht einem das Ankommen doch noch mal deutlich angenehmer und einfacher. Es ist einfach der Hammer.

Auch der generelle Umgangston beim Einkaufen, in öffentlichen Verkehrsmitteln und so weiter ist hier in Binghamton wesentlich freundlicher und zuvorkommender als ich es von Deutschland her kenne (War es auch in New York teilweise schon, wenn es dort auch noch viel hektischer zuging), sodass einem das Wohlfühlen wirklich sehr einfach gemacht wird. So langsam verstehe ich auch, weshalb man uns Deutsche als ein eher unhöfliches Völkchen empfindet. In Ulm hatte ich zum Beispiel mehrfach Situationen, in denen ich am Bahnhof Leute abwimmelte, sei es aus Eile oder weil ich keine Lust auf Konversation hatte, als sie mich beim Fahrkartenkauf am Automaten ansprachen, hier wird einem sofort und ohne darum zu bitten sehr zuvorkommend geholfen, wenn man mal einen verwirrten Eindruck macht. Einfach ein anderer Lifestyle.

Natürlich bin ich vorrangig nicht zum Kajaking hier oder um mir die tollen Industriegebiete anzuschauen, sondern immer noch zum Studieren. Und neben meinem neuen Heim bei Marion und Paul wird die Binghamton University einer meiner meistbesuchten Orte in dieser Zeit sein. Deshalb ein paar Worte zu meinen ersten akademischen Schritten im Land der unbegrenzten Studiengebühren. Bereits am vergangenen Freitag war die erste Einführungsveranstaltung für die International Graduate Students, also die Studenten, die einen weiterführenden Studiengang besuchen und nicht aus den USA stammen. In den meisten Fällen bedeutet dies China oder Indien, denn hier scheint bevölkerungsbedingt der größte Pool an Wissen und eine potentielle Bereicherung für den amerikanischen Arbeitsmarkt zu existieren. So kam ich mir bei der Einführung dann etwas verloren vor und wurde durch mein doch etwas hervorstechendes Äußeres mehr als einmal gefragt, ob ich hier richtig sei…

Doch das tut weiter auch nichts zur Sache, denn sobald man erwähnt, dass man allerdings ein international student ist und dann auch noch aus Deutschland kommt, hat man scheinbar schon gewonnen. Sei es, dass viele der Leute, die ich getroffen habe, sich auch an einer deutschen Uni beworben haben und wir so scheinbar akademisch einen ganz guten internationalen Ruf genießen, oder dass man mit Deutschland nicht immer nur Unhöflichkeit, sondern auch eine effiziente und sorgfältige Arbeitsweise und beliebte Konzerne wie BMW, Daimler, SAP, Siemens und so weiter verbindet, zumindest wird man hier nicht nur freundlich empfangen, nein man wird geradezu gefeiert und ist ziemlich beliebt. Ich führte so viele interessante Gespräche mit Leuten verschiedenster Fachrichtungen, da rückte das offizielle Programm schon fast ein wenig in den Hintergrund. Leider, muss man fast sagen, denn abgesehen von endlosen Vorträgen über den richtigen Umgang mit offenem Feuer (tatsächlich sind auf dem gesamten Campus Kerzen streng verboten, sogar wenn sie nicht mal angezündet sind) oder das korrekte Verhalten bei einem Shooting (also einem Amoklauf) bis hin zu der differenzierten Erklärung, wann und unter welchen Umständen nach amerikanischem Recht jemand sein klares Einverständnis zu vertraulichen gemeinsamen Aktivitäten geben kann und wann ein Nein wirklich Nein bedeutet (scheinbar immer und zu jedem Anlass), haben sich die Veranstalter des ISSS (Office of International Student and Scholar Services) wirklich tolle Sachen einfallen lassen. An dieser Stelle noch mal ein ganz dickes Dankeschön an sie (auch wenn das vermutlich nie jemand von ihnen lesen wird) für die Organisation der Orientation. Ihren Zweck, den Studenten eine Plattform zum gegenseitigen Kennenlernen und dem Knüpfen erster Kontakte zu bieten, hat sie zumindest bei mir zur vollsten Zufriedenheit erfüllt.

Den Höhepunkt bildete das Picknick am Montag (es fand tatsächlich drinnen statt und gegessen wurde an Tischen), wo es völlig kostenlos allerhand Köstlichkeiten zu schnabulieren gab, nicht zuletzt leckere BU-Cupcakes. Wenn das nicht mehrere zehntausend Dollar Studiengebühren wert ist, was dann?

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